Der Erlkönig und seine Lakaien


[Scavenger]



Die Ruinenfelder von Langen sind ein wahres Wunderland. Egal, was die Alten dort mal stehen hatten, es war der Gipfel der technologischen Entwicklung und Mechanik. Unter den Trümmern und Betonplatten dieser ehemaligen Stadt liegen Schätze von einer Komplexität, wie sie die Welt nach dem Fall wohl nie mehr zustande bringen wird. Und das ist vielleicht in einigen Fällen auch besser so.

 

Der Ruf der Artefakte konnte nicht für immer ungehört bleiben und bald machten sich die ersten Scavenger und Glücksritter auf, Schaufeln und Spitzhacken im Gepäck. Jeder einzelne von ihnen im festen Glauben an den großen Fund, das eine Artefakt, dass einem Reichtum und unsterblichen Ruhm einbringen wird. Die Lagerfeuergeschichten reichen von einem G.E.E.K über eine mechanische Rüstung weiter zu Lichtwerferkanonen und gipfeln dann bei verschlossenen Bunkern voller Medikamente und Sexrobotern.

 

Solche Schätze in Aussicht erwachte eine nur allzu gut vertraute Kraft in den Herzen der Schrottsammler, die den Menschen schon seit Urzeiten ein treuer Begleiter und Schatten war: Die Gier. Und mit ihr auch der heftige Drang, alle aus dem Weg zu räumen, die einem im Weg stehen. Oder im Weg stehen könnten. Oder mit denen man am Ende noch teilen müsste.

 

Doch die Jungs und Mädels waren keine Idioten und stampften sehr schnell unterschiedlichste Stämme, oder besser Gangs, aus dem Boden und erklärten sich den Krieg. Seitdem geht es in Langen heiß her: gepanzerte und schrill bemalte Karren und Bikes heizen durchs Trümmerfeld, man lauert sich mit dem Messer zwischen den Zähnen im Dunkeln auf und kämpft verbissen um jeden Tag an den Ausgrabungen.

 

Das ging eine ganze Weile so, bis immer neue und vor allem immer mehr Sammler den Weg nach Langen fanden und sich dem Kampf anschlossen. Die ältesten Banden schlossen sich zusammen und formten einen Bund, der stark genug war, um Langen zum ersten Mal seit langer Zeit zu befrieden. Man bezog den Berg und richtete sich häuslich ein. Handel kam auf und die Kunde einer sicheren Passage verbreitete sich rasch. Bald war auch das Interesse der Noris geweckt und man verlangte den Anführer zu sprechen. Das warf eine interessante Frage unter den Scavengern auf.

 

Die vier ursprünglichen Clans konnten sich natürlich nicht einigen und schickten nach einigen Prügeleien, wilden Anschreien und Drohgebärden der übelsten Sorte jeweils ihren härtesten und erfahrensten Reliktjäger ins Rennen: Jeder sollte der alten Stadt Langen einen Schatz entreißen und ihn vor seine Brüder und Schwestern tragen. So erzählt man sich die Geschichte zumindest. Vielleicht wurde auch alles in einem Rennen entschieden? Aus diesem Wettstreit trat damals jemand als Sieger hervor, einte die Clans und Stämme Langens unter sich und verteidigte die Schätze der Stadt vor allen Eindringlingen. Er erhielt den Titel „Erlkönig von Langen“, denn wenn sich der Kaiser der Noris schon mal meldet, will man ihm ja im Titel nicht allzu viel nachstehen.

 

Diesen Bund gibt es noch heute, doch die alten Familien zanken sich inzwischen mehr um die Nachfolge zum Erlkönig, als um die Reliktfelder. Einen Umstand, den die lauernden Geier, die nie aufgehört haben, die Ruinenstadt zu umkreisen, zu nutzen wissen.

 

Der Straßenkrieg hat seinen Weg zurück nach Langen gefunden und eine nur allzu gut vertraute Kraft erwacht in den Herzen der Schrottsammler. Und mit ihr auch der heftige Drang, alle aus dem Weg zu räumen, die einem im Weg stehen. Oder im Weg stehen könnten. Oder mit denen man am Ende noch teilen müsste.


Die Siemensianer


[Jünger des Maul]


Unheimliche Geräusche und monotone Gesänge durchdringen die Nächte von Langen, finden ihren Weg aus unterirdischen Labyrinthen, vorbei an flackernden Leuchtröhren und brennenden Fackeln, winden sich durch Windspiele und andere Lärmfallen und werden schließlich vom heulenden Wind über die Ödnis getragen. Die Siemensianer, allesamt angeblich Nachkommen einer großen Firma, die vor dem großen Knall angeblich was zu sagen hatte, kroch vor einigen Jahren aus dem firmeneigenen Bunkernetzwerk. Endlich, könnte man meinen, denn zu dem Zeitpunkt, als das tonnenschwere Stahlschott zur Seite gerollt wurde, waren im Bunker selbst schon seit Jahrzehnten die Lichter ausgegangen.

Die Oberwelt verkam zu einem todbringenden Mythos, Licht wurde zur Qual und Trost und Halt fand man nur im wohligen Klang von Gesängen und verklärter Firmenideologie.

 

Die ersten Wochen, nachdem schließlich sogar der Nährschleim nicht länger nur die Konsistenz, sondern auch den Geschmack von Eiter annahm und man sich auf der Suche nach neuen Nahrungsquellen an die Oberfläche wagte, waren hart. Erste Experimente mit dem Verzehr von Menschenfleisch lieferten grausige Ergebnisse, wo doch die Jahrzehnte der gallertartigen Nahrung die Mägen der Bunkerleute hatten völlig verkümmern lassen, also strich man diese Eiweißquelle wieder von der Einkaufsliste.

 

Es waren die Jünger des Maul, die sich jener armer Seelen annahmen und ihrem Streben endlich eine angenehme, verschworene und irgendwie vertraute Richtung gaben: Der Kult der Siemensianer war geboren. In undurchsichtigen Ritualen, gehüllt in Kutten mit Kapuzen, die vor dem garstigen Licht schützen sollen, intonieren die bleichen Unterweltler die Gesänge des Mauls und übergeben Apparate des alten Volks dem giftig grünen Schlund, den sie passenderweise in der Kloake einer gewaltigen Anlage ausgehoben haben. Ihr Glück, dass sie mitten in Langen ein Loch voller medizinischem Sondermüll vorgefunden haben, die Dank der Strahlung und wundersamen Ödland-Anomalien der Neuzeit das Brodeln und Blubbern angefangen hat. Die regelmäßigen Opferungen der Siemensianer tun ihr Übriges dazu, diesen Prozess noch weiter anzuheizen, wenn wieder einmal eine Maschine mit den kleinen türkisen Buchstaben ihren langen Weg auf den Grund des Schlundes antritt und der obszöne Gesang von dutzenden Kultisten sich überschlägt: „Wir gehören zur Familie!“ Jetzt erstmal eine Schüssel Brei. Ach, was soll der Geiz, gib mir fünf!